Nach einigen heißen Tagen zuletzt, tröpfelt es nun draußen vor sich hin. Alles dunkel, das Licht der Straßenlaternen spiegelt sich auf dem Asphalt und in den Scheiben der parkenden Autos. Ich reduziere die Helligkeit des Bildschirms, um beim Schreiben diese Stimmung ein wenig mittippen zu lassen. Die Stimmung meiner Stadt. Wie is‘ es grade, Hamburch? Du bist still, von weitem das Rauschen der nächst größeren Straße weiter vorne, ab und an eine kleine Böe, die die Halme des Lavendels im Blumenkasten vorm Fenster sanft hin- und her bewegen. Von den Bäumen fallen Regentropfen auf den Gehweg und vom Fleet her hört man das Wasser wie das Plätschern eines kleinen Bachs. Der Himmel ist bewölkt und blass lila beleuchtet wie meistens nachts. Die Lichter der Stadt. Die kleinen Lampions über dem Straßenbeet sind vorhin angegangen. Vor einigen Monaten habe ich eine Grünpatenschaft übernommen und gärtnere jetzt ein bisschen – machen viele hier in der Nachbarschaft und ich liebe es.
Es ist alles Heimat und Alltag und einfach Meins geworden über die Jahre. Und trotzdem ist das heute Abend, wenn der Michel bald Mitternacht schlägt, ein besonderer Moment. Den wollte ich beim Schreiben dieses Textes erleben. Ich hatte die ersten Jahre, in denen ich in Hamburg wohnte, immer etwas geschrieben, wenn dieses Datum auf dem Kalender erschien. Am 01. August. Habe eben auch noch mal nachgelesen, worauf damals mein HH-Fokus lag und wie ich diese Stadt Stück für Stück erkundet habe. Über die Jahre verlief sich das dann irgendwie – ich dachte zwar an unser Jubiläum, aber es wurde im kleinen Rahmen oder nur gedanklich darauf angestoßen.
Aber nun sind es zehn. Digga. Zehn Jahre lebe ich hier. Vor zehn Jahren schleppten wir gerade immer noch Umzugskisten in den 4. Stock in der Nachbarstraße in meine damalige erste Wohnung. Wie irre ist das? Ich erinnere mich noch sehr gut daran zurück, was ein fürchterlicher Tag und ein katastrophaler Umzug, alles lief schief damals, meine Fresse. Vor gut zwei Jahren hab ich dann dieser Wohnung zum Abschied leise zugenickt und zog während des 1. Lockdowns um. Nur umme Ecke mit einem Zimmer mehr und da verwirklichte ich mich so derbe beim Streichen der Wände und der kreativen Raumgestaltung, indem ich Stunden vor der Farbpalette im Baumarkt verbrachte, Nächte auf dem Küchenboden saß bei der Recherche im Netz, Möbel ohne Ende geliefert bekam und zusammen baute, verzweifelt auf der Leiter unter den Lampen viel über Elektrik und Kabel lernte und inneneinrichtungsmäßig einfach voll einen raus gehauen hab. Waren spannende Wochen in sehr seltsamen Zeiten.
Und wo steh ich heute? Wo sind wir angekommen, Hamburg?
Es war nicht einfach, dich zu behalten. Über Jahre stand es auf der Kippe und fraß mich innerlich auf. Zunächst unmerklich, aber es knabberte an mir, man wog ab zwischen Mensch und Stadt und Gefühlen und Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Schlussendlich zeigte mir mein Körper mit allem, was ihm zur Verfügung stand, welcher Weg der für mich richtige ist. Ich blieb hier. Es war schmerzhaft. Und so unfassbar lehrreich für mich. Es dauerte Wochen und Monate, bis ich eines Nachmittags bemerkte, dass ich wieder lächelte, als ich Richtung Michel ging. Das war ein sehr befreiendes Gefühl, ich weiß es noch gut. Wischte viele Zweifel weg und verheulte Nächte am Hafen. Der Hafen, der mich immer wieder ruhig atmen ließ. Einige Zeit später wurde mir so viel bewusst, es traf mich schlagartig beim Lauftraining in der Hafencity. Ich blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und dachte nur, wie krass richtig ich mich entschieden habe. Wie falsch alles andere gewesen wäre. Wie sehr du und ich uns stärken, du mich hast ankommen lassen, ich kann und will vor allem nicht ohne dich.
Als eine weitere Geschichte auch unter anderem wegen der Wohnorte scheitere, war ich kurzzeitig echt mal sauer auf dich, Hamburg. So nah du mir bist, so weit entfernt bist du offensichtlich für andere. Kann ich nicht auch mal beides haben? Die Stadt und den Menschen? Digga, was da los? Habe genug Gefühl für beides, Herr Gott noch mal.
Aber ich lernte irgendwann, das zu formulieren. Diesen Wunsch auszusprechen. Von vorne herein. Ohne Wenn und Aber. Als Voraussetzung für alles. Anker geworfen. Tja nun. Was soll ich sagen? Nun sitze ich hier am Schlafzimmerfenster, der neue Kleiderschrank für zwei ist aufgebaut, im Arbeitszimmer stapeln sich noch ein paar Umzugskisten und im Flur steht jetzt das schwarze Regal von ihm. In ein paar Wochen wohne ich hier nicht mehr alleine. Dann ist dieser Mensch hier. Bei mir. In Hamburg. Dieser Mensch, der mir noch vor dem 1. Date damals und ohne mich live gesehen zu haben zugesichert hat, dass er in einem möglichen Fall von „Boy meets Girl and big love und so“ zu mir ziehen würde, da mir das so wichtig ist. Und er hat Wort gehalten. Gegen alle logischen Dinge, die dagegen gesprochen haben. Gegen alle Argumente, die schlüssig und viel einfacher umzusetzen gewesen wären. Gegen alle Krisen, die über uns hereinbrachen. Er macht das für mich. Für uns. Ich glaube, weil wir uns so krass ähnlich sind, dass er als Einziger versteht, was Hamburg mit mir macht. Das ist groß. Das ist Liebe ey. Und ich kann meine Dankbarkeit und Freude manchmal gar nicht in Worte fassen. Dieses Gefühl, dass wir genau hier an diesem Ort zusammen gehören. Dass das nicht nur meine Stadt ist, sondern auch seine und unsere. Dass wir alles wuppen können, was da noch kommen möge. Danke Hamburg nachträglich, dass du in der Vergangenheit immer dann dazwischen gegrätscht hast, wenn etwas nicht sein sollte.
Zehn Jahre und nun beginnt ein neues Kapitel. Eine neue Seite im Stadtführer. Den wir aber wohl kaum brauchen werden, wir kennen uns ja schon.
Eine Antwort zu “Zehn, Digga.”