Heute ist der 10. Dezember 2020. Draußen ein paar Grad über 0. In meinen Blumenkästen vorm Fenster sind eben die Lichterketten angegangen. Heute vor genau einem halben Jahr kam ich ziemlich erledigt von der Arbeit, hab mir ne riesige Ladung Fisch mit Reis reingezogen und wollte mich eben für ein gepflegtes Nickerchen auf mein Bett schmeißen, als das Handy brummte. Ich überlegte noch, ob ich gleich drauf schaue oder doch zuerst die Augen zumache. Mit einem halben Blick linste ich auf das Display. Und war schlagartig wieder hellwach. Der hat doch nicht…? Der ist doch nicht etwa…?
Die Nachricht enthielt kein einziges Wort und sagte doch so viel. Dein Standort. Unten an der Elphi. Ich fasste es nicht. Was zum Teufel…?
Dieser Typ ey. Lange hattest du bei mir gar keinen Namen. „Dieser Typ von Instagram“. Wir hatten eine Weile hin- und hergeschrieben, es wurde mal das kommentiert, mal das nachgefragt, oft ging es um Einrichtungsthemen, da ich seit April dabei war, meine neue Wohnung einzurichten. Dann hüpften wir aber auch recht schnell in persönlichere und deepe Themen: Job, ehemalige Beziehungen, Familie, Elternschaft, Einstellungen zu Gott und die Welt – und ja, da kristallisierten sich so gewisse und verdammt viele Gemeinsamkeiten heraus. Einen wirklichen Fokus hattest du aber wohl schon sehr viel länger als ich auf diese Sache.
Dating in Coronazeiten hatte ich eh abgeschworen, war an dem Punkt angekommen, an dem ich dachte: allein bleiben ist ne echt okaye Option. Und falls doch noch mal irgendwann jemand vorbei kommt, dann joa, von mir aus. Du hattest den Zeitpunkt unbewusst sehr richtig gewählt.
Über ein Treffen hatten wir davor noch nicht gesprochen, du hattest dich schon mit der Frage, ob wir vielleicht mal auf WhatsApp wechseln könnten, schon so arg angestellt. Und ich bewundere heute noch deine Coolness, als ich dir daraufhin voll einen vor den Latz knallte und sagte – frei übersetzt – „Also, ich weiß ja nicht, was du dir davon versprichst, aber ich sag mal direkt, wie’s ist: jemand, der nicht in Hamburg wohnt, kommt für mich nicht in Frage. Können also gerne weiter schreiben, weil ist nett und so, aber dir sollte klar sein, dass da nicht mehr draus werden kann.“
(…hüstel…selten so falsch gelegen, aber dazu später.)
Ich glaube, ich hatte noch das GIF mit Obama à la Mic Drop dahinter gestellt – selbst solche Ansagen gingen bei uns nie ohne ne Portion Humor ab.
„Du…bist in HH?“
„Ja, hab mich wohl irgendwo verfahren.“
„Warum sagst du sowas denn nicht, ey?“
„Überraschungseffekt.“
„Beruflich?“
„NEIN du Nase! Was denkst du?“
„Zusammen gefasst etwa: ORRRRRR!“
„Eher so ‚Orrrrr, was’n Spinner?‘ oder ‚Orrrrr, was’n Stress jetzt‘?“
„Ne Mischung!?“
Erster Impuls war: Vorhänge zuziehen und abwarten, bis die Stadt da draußen wieder sicher ist. Aber nach einem Panik-Telefonat mit der besten Freundin, die mir nach ihrem Lachanfall den verbalen Arschtritt gab, den ich brauchte, zog ich mich 3mal um, um schlussendlich doch den Rock mit den Kreidespuren vom Schultag anzulassen, weil „hey, it’s me“. Moaaa, dieser Tag war echt anders geplant, eigentlich stand Möbelrecherche fürs Wohnzimmer auf dem Programm.
„Ich geb dir ne halbe Stunde, danach geh ich Sofas gucken. Arschkeks.“
„Wenn du das ernst meinst, wäre dies als außerordentlich konsequent zu bezeichnen.“
„Hey, für nen ersten Eindruck reichen auch 2 Minuten – da sind 30 schon echt großzügig bemessen.“
„Das mit der Romantik müssen wir echt noch üben.“
„Fresse!“
Während ich mir noch die Haare kämme, merke ich, dass ich ja nicht mal weiß, wie du aussiehst. Ich habe nie ein Foto gesehen.
„Wie erkenne ich dich denn? Trägst du ne rote Rose im Knopfloch?“
„Denke, ich erkenne dich. Die einzige vor Wut schäumende Person, die hier lang flaniert.“
„Aber ich dich nicht. Das ist unfair.“
Dein Foto sehe ich, als ich aus der Haustür trete mit dem Kommentar: „Deine letzte Chance, einen wichtigen Anruf vorzutäuschen.“
„Dachte eher an eine Videokonferenz, ist aktuell einfach zeitgemäßer und glaubwürdiger.“
„Natürlich.“
Und dann sah ich dich da sitzen. Auf dieser Bank vor der Elphi. Du hattest dich noch über den Wind beschwert – kein Wunder, du warst in Hamburg (hallo?) und saßt noch dazu genau in der Windschneise da in der Ecke. Klassischer Touri-Anfängerfehler. Tief durchatmen, er ist wahrscheinlich nervöser als du.
„Wenn du sagst, dass du jemanden kennen lernen willst, meinst du das offensichtlich verdammt ernst.“
Dieses Grinsen ey. Obwohl ich dich echt ne ganze Weile habe warten lassen.
„Darf ich dich in den Arm nehmen?“
„Ja, verdammt.“
„Soll ich nen Timer auf 30 Minuten stellen?“
Ich hasse ihn jetzt schon.
Wir brauchten drei Wochen, bis wir offiziell zusammen waren und trotzdem ist der 10. Juni der Tag, der uns im Kopf bleibt – da fing diese ganze echt verrückte Sache an. Sechs Monate und es kommt mir zum einen so vor, als wäre es nie anders gewesen und gleichzeitig zum anderen so, als ob dieses erste „Nicht-Date“ (es war kein Date, es war ein Überfall) erst ein paar Tage her ist. Ein halbes Jahr. Krass verrückt. Das mit uns.
Spoiler: das Sofa, das ich mir an dem Tag nicht mehr angucken konnte, kaufte ich dann mit ihm während unseres 3. Dates.